„Heimat“ ist ein Begriff, der sich nur schwer übersetzen lässt. Mehr noch als einen bestimmten Ort – den Geburtsort, den Ort, an dem man aufwuchs oder eine Familie gründete – bezeichnet er ein Gefühl der Geborgenheit, einen Zustand des inneren Friedens. Eine Heimat zu haben, bedeutet, im Leben geerdet zu sein, zu wissen, wer man ist, etwas zu haben, das Bestand hat, auch wenn die Erde sich beständig weiter dreht. Für die allermeisten Menschen stellt sich die Frage nach der Heimat nicht. Sie ist einfach da, verlässlich und unvergänglich. Anders ist es für die vielen Menschen, die ihr Land Jahr für Jahr freiwillig oder unfreiwillig verlassen, Familie und Freunde zurücklassen und sich in einer anderen Kultur wiederfinden, umgeben von Menschen, die eine fremde Sprache sprechen. Sich in dieser Fremde ein Stück Heimat und Identität zu bewahren, ist für sie lebenswichtig. Die moldawische Gemeinde in Krefeld findet diese Heimat im Verein „Plai“. Gegründet wurde er von der Moldawierin Nadejda Serbescu, die damit auch die Kultur eines Landes bewahren möchte. Eines Landes, das im Verschwinden begriffen ist.
Seit rund neun Jahren lebt die Grundschullehrerin Nina nun schon in Krefeld. 2015 verließ sie mit ihrer Familie – Ehemann Valeriu, ihren Söhnen Radu und Cezar sowie Tochter Valeria – das kleine moldawische Örtchen Plopi im Bezirk Cantemir, unweit der rumänischen Grenze. Die Verbindung nach Deutschland hatte sich durch Valeriu ergeben, der in seiner Tätigkeit für ein Transportunternehmen oft nach Westeuropa fuhr und Bekannte hier hatte. „Wir hatten in Moldawien ein Geschäft zu gründen versucht“, erklärt Nina, „aber das war sehr schwer. Es gab wenig Unterstützung vom Staat, stattdessen große Korruption.“ Es war die drohende Armut, die die Familie Serbescu die Taschen packen und die lange Reise nach Deutschland antreten ließ. Immerhin 2.500 Kilometer weit. Erst nach und nach kamen auch ihre Schwester Svetlana mit ihrer und der Familie ihres Bruders Serghei nach.
Die Republik Moldau grenzt im Westen an Rumänien, im Norden, Osten und Süden wird sie von der Ukraine umschlossen. Mit seinen knapp 34.000 Quadratkilometern rangiert das Land in Europa größenmäßig zwischen der Schweiz und Belgien. 2,5 Millionen Menschen leben hier, meist von der Landwirtschaft, 660.000 davon allein in der Hauptstadt Chişinău. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das kleine Land vom Transnistrien-Konflikt erschüttert und ist seitdem durch die Bestrebungen der Separatisten gespalten. Der auch heute noch schwelende Konflikt warf das einst wohlhabende Land wirtschaftlich weit zurück: Mehr als eine Million Moldawier flohen vor Armut und drohenden Eskalationen. Eine Besserung ist erst seit kurzem in Sicht: 2020 löste die pro-europäische Präsidenten Maia Sandu den russlandnahen Sozialisten Dodon ab. Doch der Hoffnungsschimmer wird von Angst überlagert: Was, wenn etwa der Ukrainekrieg weiter nach Westen vordringt und Putin territoriale Ansprüche geltend macht?
Man merkt Nina an, wie sehr sie diese Ungewissheit belastet. Ob sie gern in ihre Heimat zurückkehren möchte? Im Moment ist das eine hypothetische Frage, denn die Lage zu Hause ist immer noch viel zu unsicher. Aber als sie von ihrem Weinberg spricht, von der unberührten Natur, den heißen Sommern, dem Schneetreiben im kalten Winter und der 94-jährigen Schwiegermutter und dem Bruder, die zurückblieben, ringt sie kurz mit den Tränen. Weder sie, noch Cezar oder ihre Schwester Svetlana sprechen es aus, aber die Angst steht im Raum: dass ihre Heimat und ihre Kultur verschwinden könnten.
Rund 500 Moldawier leben aktuell in Krefeld. Die meisten von ihnen haben eine ganz ähnliche Geschichte zu erzählen wie Nina, aber nicht alle das Glück, ihre Familie um sich zu wissen. „Viele von ihnen schaffen es nicht, regelmäßig nach Hause zu fahren, um ihre Verwandten zu besuchen. Das ist sehr schwer für sie“, weiß Nina zu berichten. Hinzu kommt, dass in der Fremde eine neue Generation Moldawier und Moldawierinnen heranwächst, die ihr Heimatland vorwiegend aus Erzählungen oder aus dem Urlaub kennen. „Meine Tochter ist in Krefeld eingeschult worden“, erzählt Nina. „Sie ist eine Deutsche, spricht viel besser Deutsch als Rumänisch. Wenn sie ihre Großmutter sieht, kann sie sich kaum mit ihr verständigen. Ich möchte, dass sie ihre Wurzeln nicht ganz verliert.“
Um diese Wurzeln, also Heimat, Traditionen und Bräuche zu bewahren, gründete Nina vor fünf Jahren den Verein Plai. Die Mitglieder – und alle, die mitmachen möchten – treffen sich regelmäßig, um Informationen über ihr Heimatland auszutauschen, alte Volkslieder zu singen, Tänze zu proben oder Feste zu feiern. Für Kinder gibt es Vorleseabende oder Bastelkurse, bei denen zum Beispiel das Mărțișor (zu Deutsch: Märzchen) gebastelt wird: Der Anstecker besteht aus einer rotweißen Schnur und wird von Frauen, Männern und Kindern den ganzen Monat März getragen, um die Ankunft des Frühlings zu feiern. Überhaupt spielt die Natur eine wichtige Rolle in der moldawischen Kultur, findet sich in stilisierter Form auch in den traditionellen Trachten wieder: üppig und kunstvoll bestickten Blusen, Westen und Röcken, die von Männern und Frauen getragen werden und auch zeigen, aus welcher Region sie kommen. „Das Kreuz symbolisiert den Glauben, Gelb stellt die Sonne dar, Grün die Wälder, das Rot steht für die Liebe und das Schwarz für die Erde“, erklärt Nina die Bedeutung der Ornamente. Der Fluss, der durch ihre Region fließt, findet sich in den roten Linien wieder, die schräg über ihre Bluse laufen.
Im Augenblick bereiten sich Nina und ihre Familie auf das große Trachtenfest vor, das sie am 29. Juni ausrichten werden. Unter dem Namen „Hora Dorului“, was so viel bedeutet wie „Tanz der Sehnsucht“, tragen sie die eigens für diesen Anlass in Moldawien gefertigten Trachten und führen ihre Tänze auf. Die Musik kommt von namhaften moldawischen Sängerinnen und Sängern wie Igor Rusu, Marina Coptu, Costi Burlacu und Corina Tepeș, die extra nach Deutschland geholt werden. Neben typisch moldawischer Kost – etwa der Maismehlbrei Mamaliga, der Schafskäse Plätschintä Brynsä oder Drob de miel, mit Fleisch und Käse gefüllten Teigtaschen – sind auch verschiedene Handwerkskünste mit Ständen vertreten und bieten unter anderem Keramikpuppen, Teppiche oder Tischdecken an. Etwas traurig räumt Nina ein, dass das Fest in Mönchengladbach stattfinden wird, weil man in Krefeld leider keinen geeigneten Platz gefunden habe. Überhaupt sucht der Verein händeringend nach einem Raum, in dem die Mitglieder ihre Tänze üben und singen können. Bislang trifft man sich entweder in Privatwohnungen oder aber auf öffentlichen Plätzen, wo man längst nicht immer willkommen ist. Das Geld ist natürlich auch ein Problem: Zwar nimmt Plai städtische Förderungen in Anspruch, doch die meisten Kosten tragen seine Mitglieder selbst.
Zum Abschluss unseres Gesprächs treffen wir uns noch einmal im Schönwasserpark. Nina hat 14 Vereinsmitglieder zusammengetrommelt, die sich extra für uns nach Feierabend in ihre wunderschönen Trachten gehüllt haben. Die meisten sprechen nur gebrochenes Deutsch, aber allen gemein ist eine urwüchsige Herzlichkeit und Dankbarkeit. Ihre traditionelle moldawische Kleidung tragen sie mit Stolz, aber auch mit einer gewissen Wehmut. Doch in der Gemeinschaft lassen sich das Heimweh, die Sorge um Moldawien und die dort lebenden Verwandten viel besser ertragen, man gibt sich gegenseitig Kraft. Die Sonne scheint hell und warm über Nina und ihren Verwandten und Freunden, als sie sich die Hände reichen und sich zum Gruppentanz formieren. Für einen kurzen Augenblick ist die Heimat ganz nah, ein Stück Moldawien erwacht in Krefeld und die Sorgen sind vergessen.
Aufruf
Nina Serbescu und der Verein Plai – Moldawischer Verein e. V. würden sich riesig über ein geeignetes Raumangebot in Krefeld freuen. Vermieter wenden sich telefonisch an: 0160/2826689
Festival Hora Dorului
Samstag, 29. Juni, ab 12 Uhr
Haus Ohlenforst
Engelbleckerstr. 326
41066 Mönchengladbach
Fotos: Niklas Breuker